Vom Auftauchen und Verschwinden

world music und Imperialismus – die gewaltsame Durchsetzung der Harmonie

Der weiße Mann – Symbol, Ausformung und handelndes Subjekt der bürgerlichen Gesellschaft – hat die gesamte Welt mit seiner Lebensweise überzogen. Ich möchte hier nicht auf die Kriege, Eroberungen und Demütigungen eingehen, auch nicht auf die Widerstandsbewegungen, Revolutionen und Terrorismen, die damit verbunden waren. Hier soll nur von dem Unverständnis gesprochen werden, mit dem die Eroberer den anderen unterworfenen Kulturen gegenüberstanden.

Geblendet von ihrem (vorgeblichen?) technischen Fortschritt und ihrer wissenschaftlichen (ebenso vorgeblichen?) Überlegenheit waren sie nicht willens, sich mit anderen komplexen theoretischen Systemen auseinanderzusetzen, weder in der eigenen Vergangenheit noch in der Gegenwart anderer. Für die Musik unserer Gesellschaft bedeutete dies, dass die tausend- und mehrjährige Tradition Europas mit ihren ausgefeilten modalen Systemen, die von den Griechen der Antike bis zu den Kirchentonarten des europäischen Mittelalters Gültigkeit hatten, vergessen oder als unterentwickelt abgelehnt wurde. Ähnliches gilt für die Rhythmussysteme in Musik und Dichtung. Hinfort sollten nur noch das Dur-moll-System, getakteter Rhythmus und Tonalität der Funktionsharmonik das musikalische Geschehen bestimmen.

Diese musikalischen Raster wurden den unterworfenen Weltteilen und den zu modernisierenden Kulturen übergestülpt. Die dort vorgefundenen Musizierweisen wurden als ebenso primitiv angesehen wie die dort vorgefundenen Produktions- oder Lebensweisen. Außereuropäische Musik war also für den weißen Mann eher Objekt der ethnografischen Beschreibung oder exotischer Sammlungen als unvoreingenommer Kunstgenuss. Sogar in Ländern, in denen der gewaltsame Zusammenstoß mit dem Westen durch eigene Erfolge in der Modernisierung gemildert wurde wie in Japan der Meiji-Restauration oder in der Türkei Mustafa Kemal Atatürks, wurde unter Verzicht auf die eigenen historischen und nationalen Traditionen die europäische Musik übernommen, gepflegt und unterrichtet. Das Gegenteil ist übrigens nie vorgekommen. Zwar kennen wir türkische und japanische Musikerinnen und Musiker, die es im westlichen Musikbetrieb zu großer Meisterschaft im Komponieren und im Spiel der Instrumente gebracht haben, umgekehrt aber gibt es diese Hinwendung nicht.

Erst avantgardistische Strömungen und demokratische Ideologien machen das westliche Publikum und den mainstream der westlichen Musik mit außereuropäischen Traditionen bekannt. Dennoch bleibt der Austausch einseitig, wird mit rassistischen Zuschreibungen übertüncht und mit paternalistischen Zugeständnissen vermittelt. Dabei gehen wir weiter von der Überlegenheit der westlichen Musik aus. Quasi als ideologische Wiedergutmachung wird aber die übergestülpte westliche Musizierweise in bestimmten Zugängen als von den außereuropäischen Kulturen beeinflusst dargestellt. Beispielhaft und wohl auch mit einer wirkungsgeschichtlichen Dimension ist da das Beispiel der Jazzmusik.

In ihren Anfängen zur Wende vom neunzehnten in s zwanzigste Jahrhundert handelte es sich um urbane Gebrauchs- und Unterhaltungsmusik: Tusch, Gesang, Zirkus- und Cabaretmusik, aber hauptsächlich Tänze und Märsche in einem strikten Zweierrhythmus. Angereichert wurde diese Musik von der jeweiligen Tradition der praktizierenden MusikerInnen. So tauchten neben der honky tonk Barmusik auch pentatonische Volksweisen der irischen und schottischen Einwanderer auf und neben Einflüssen des deutschen Lieds machten sich die nur spärlich begleiteten Arbeits- und religiösen Gesänge der (schwarzen) LandarbeiterInnen bemerkbar, die letzteren wieder beeinflusst von den anglikanischen Kirchenhymnen. Als der Jazz aber am Ende des ersten Weltkriegs seine erste kodifizierte Form als New Orleans Stil gefunden hatte, wurde ihm ein besonderes rhythmisches Element zugeschrieben, der swing, der auf angeblich aus Afrika stammende Traditionen zurückzuführen sein soll.

Diese fromme Legende wird bis heute gläubig nacherzählt. In ihr führen rassistische Zuschreibung und paternalistisches Wohlwollen zu einem angeblichen außereuropäischen Einfluss, der einer Musikrichtung zu einem fortschrittlichen oder antiimperialistischen Anstrich verhilft, die das schlechte Gewissen (und Wissen) des weißen europäischen imperialistischen Publikums besänftigen soll. Ähnliches trifft auf die Pflege amerikanischer klezmer-Traditionen in Europa zu. Nachdem die jüdische Bevölkerung Europas zum großen Teil ermordet worden war, spielen junge MusikerInnen eine Musik nach, zu der sie keinerlei konkrete Verbindung haben außer Schuldgefühlen und der Hoffnung, dass in der besten aller möglichen Welten alles gut wird. Ein besonders abgeschmacktes Beispiel ist eine Band, deren Name Programm war. Sie hieß „Gojim“.

Dasselbe geschieht auch heute mit international verkaufter Unterhaltungs- und Popmusik, die afrikanischen und asiatischen MusikerInnen den Markt öffnet. Dort stehen sie aber in aller Regel in einem exotischen Eck, wo sie für westliche Bedürfnisse kompatible und interessante Musik produzieren. Dieses Phänomen ist aber nicht so neu: Wir kennen es aus der romantischen Begeisterung für Zigeunermusik (alla zingarese). Und swing wurde als Spielweise etabliert, die aber wohl auf rhythmische Ungenauigkeiten und Verschleifungen zurückgeht – bei MusikerInnen, die mit nur kurzen Pausen durch eine lange Nacht spielen, kein großes Wunder. Auch das ist nicht neu: Die Wiener Spielweise des Walzers mit ihrem schwebenden Dreiertakt dürfte auf den gleichen Schlampereien ermüdeter Orchester beruhen.